Der Physikalische Verein in der NS-Zeit: Vorstudie wirft viele Fragen auf

In einer Vorstudie hat Historikerin Dr. Andrea C. Hansert die Quellenlage gesichtet. Ihre erste Untersuchung zeigt zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine zukünftige Untersuchung.

Das Präsidium des Physikalischen Vereins beauftragte 2024 die Frankfurter Historikerin Dr. Andrea C. Hansert mit Vorarbeiten für eine umfangreiche Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus im Physikalischen Verein. Eine Vorstudie sollte die Dimensionen des Vorhabens einschätzen. Auf der Basis erster umfassender Archiv- und Literaturrecherchen zeichnet sich eine Reihe von Themen und Schwerpunkten ab, die im Rahmen dieses Projekts vertieft zu bearbeiten sein werden.

Bild oben: Mit solchen Karten mussten die Mitglieder des Physikalischen Vereins Anfang 1939 ihre „arische“ Abstammung erklären. 25 „Nichtarier“ wurden daraufhin aus den Mitgliedslisten gestrichen.

Die institutionelle Entwicklung des Physikalischen Vereins 

Mit der sukzessiven Einbindung der Physikalischen Vereins in den Prozess der Universitätsgründung verlor der Verein seit dem Bezug des Neubaus an der Robert-Mayer-Straße 1908 mehr und mehr an Autonomie – etwa hinsichtlich der Berufung des wissenschaftlichen Personals. Doch wurden die Möglichkeiten für die physikalische Forschung dadurch beträchtlich erweitert, was sich z. B. in einer Reihe von Neugründungen von Instituten (Abteilungen) im Kontext der Gründungsgeschichte der Universität zeigt. Auch entstanden neue Stiftungen für Institute und Professuren, wie etwa 1909 die von Arthur von Weinberg oder 1914 die Stiftung des Ehepaars Oppenheim. Auf deren Ausgestaltung hatte der Verein nur noch eingeschränkten Einfluss. Die Rekrutierung des wissenschaftlichen Personals ging immer mehr auf die Universität über. In diesem Zusammenhang sind der Handlungsspielraum und die Verantwortlichkeiten auszumessen, der dem Verein in der NS-Zeit noch verblieben. 

Das Frankfurter Industriebürgertum als Hauptakteur im Vorstand des Physikalischen Vereins

Die Namen der führenden Vorstandsmitglieder belegen eine enge Verbindung des Vereins mit der Frankfurter Industrie: Leo Gans und sein Neffe Arthur von Weinberg, die Familien von Hartmann & Braun, die Roesslers als Inhaber der Degussa sowie weitere Vertreter dieses Unternehmens, Mitglieder des Führungszirkels der Metallgesellschaft (die Mertons u. a.), Repräsentanten der chemischen Industrie etwa aus der Hoechst AG etc. Diese enge personelle Verbindung von Physik und Industrie ist insofern naheliegend, als die Physik und die Chemie verstärkt Möglichkeiten zur praktischen Anwendung ihrer Forschungsergebnisse eröffnen. Auch waren zunächst der Physikalische Verein mit seiner 1889 eröffneten Lehrwerkstatt, dann die Universität die gegebenen Stätten zur Ausbildung hochqualifizierter Nachwuchskräfte für die Industrie. Darin lagen generell – unabhängig von der NS-Zeit – originäre Interessen der Industrie an der Existenz und an den Zielen des Physikalischen Vereins. In der NS-Zeit selbst wurden diese Interessen dann aber in dem Sinne artikuliert, dass man sich nun via Physikalischem Verein an den „vom Führer selbst“ gestellten großen und schweren Aufgaben zu beteiligen habe. Die Geschichte des Vereins ist somit noch bis in die NS-Zeit hinein zugleich auch ein Stück Frankfurter Wirtschaftsgeschichte und Geschichte traditionsreicher Frankfurter Unternehmen. Dieser praktische und sozialstrukturelle Aspekt ist ein hervorstechendes Merkmal des Physikalischen Vereins; er ist ungleich stärker ausgeprägt als bei der benachbarten Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft oder anderen bürgerlichen Vereinigungen in Frankfurt. Die Darstellung der NS-Geschichte des Vereins hat diese Verhältnisse deutlich herauszuarbeiten. 

Die Personen: Vorstände, Mitglieder, Angestellte des Physikalischen Vereins

Ein weiterer zentraler Aspekt der Untersuchung hat sich dem Personal des Vereins zu widmen: den Vorstandsmitgliedern, den nach verschiedenen Kategorien differenzierten Mitgliedern (reguläre, Ehren- und ewige Mitglieder) sowie den Angestellten. Mitberücksichtigt wird vor allem auch das wissenschaftliche Personal, das in der NS-Zeit aber stärker in die Universitätsstrukturen als in die Strukturen des Vereins eingebunden war. Das Augenmerk liegt hier besonders auf dem Schicksal von Personen mit jüdischem oder halbjüdischem Hintergrund und darauf, wie der Vereinsvorstand mit ihnen umging. Dazu gehört auch der Umgang mit jüdischen Stiftungen oder mit dem Andenken an jüdische Spender auf den Ehrentafeln. Darzustellen sind die Mitgliederbewegungen. Teils dramatische Rückgänge der Mitgliederzahlen hatte man infolge der Inflation und der Weltwirtschaftskrise schon in den 20er Jahren; seit 1933 kommen hier verstärkt auch die antisemitischen Maßnahmen des Regimes als Grund für den Rückzug hinzu. Die Vorrecherche ergab, dass der Vorstand des Physikalischen Vereins just zu dem Zeitpunkt, da die Juden sich nach den Novemberpogromen von 1938 ohnehin aus dem öffentlichen Leben zurückziehen mussten, die noch verbliebenen Juden unter den Mitgliedern aktiv hinausdrängte.

Auch unter den Vorstandsmitgliedern, den Ehrenmitgliedern und den ewigen Mitgliedern gab es Rückzüge oder ein Hinausdrängen jüdischer Personen. Albert Einstein wurde schon 1934 nicht mehr in der Liste der Ehrenmitglieder genannt. 

Was Mitglieder mit jüdischem Hintergrund im Vereinsvorstand betrifft, lässt sich vorerst Folgendes sagen: Alfred Petersen, Vorstandsmitglied der Metallgesellschaft, war halbjüdisch; er geriet im September 1938 in Gestapohaft und trat dann aus dem Verein aus. Arthur von Weinberg war vor der NS-Zeit zeitweise Mitglied im Vorstand, danach dann im sogenannten „Vorstandsrat“; noch im Sommer 1938 wurde er dort erwähnt; ein Schreiben, mit dem er den Austritt aus der Verein erklärte, konnte bislang noch nicht gefunden werden. Interessant ist, dass mit der Person des Bankiers Alexander Hauck, der noch Anfang der 40er Jahre als Schatzmeister des Vereins genannt wird, ein Mann im Verein aktiv blieb, der eine jüdischstämmige Großmutter hatte und der mit einer Halbjüdin verheiratet war. Ob weitere Mitglieder im Vorstand mit jüdischem Hintergrund vorhanden waren, muss die weitere Forschung erbringen. 

Im Rahmen der bisherigen Recherche wurde bereits eine Anzahl von Austrittschreiben gefunden. Von einem Teil der betreffenden Personen sollen die Schicksale erzählt werden. Neben den ausführlicheren Darstellungen der Ereignisse um das Ehepaar Oppenheim (Suizid 1933 angesichts der Machtübernahme der Nazis), Alfred Petersen und Arthur von Weinberg beispielhaft etwa von folgenden Personen jüdischer Herkunft:

  • Robert von Hirsch, ewiges Mitglied, ging schon 1933 in die Emigration. Einer seiner Brüder starb 1938 im KZ.
  • Richard Merton, Chef der Metallgesellschaft, Austrittschreiben von März 1938. Dieses steht in einer Reihe mit zahlreichen weiteren Rücktritten von beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen, darunter im Kuratorium der Universität. Nach kurzer KZ-Haft ging Merton in die Emigration. Er kehrte nach dem Krieg zurück und gab interessante Einschätzungen zum Verhalten der Wirtschaftselite in der NS-Zeit ab.
  • Bernhard Salomon, Führungsposition in der Elektroindustrie, früher zeitweise im Vorstand des Physikalischen Vereins und eines seiner Ehrenmitglieder. Bis 1933 im Vorstand der IHK Frankfurt. Während seine Frau 1942 deportiert wurde und zu Tode kam, wurde er von Freunden kurzzeitig versteckt und starb ebenfalls 1942 im hohen Alter eines natürlichen Todes.
  • Max Lorch, Handelsgerichtsrat, trat 1937 aus dem Verein aus; starb 1942 im Holocaust.
  • Dr. Edmund Stilling, wissenschaftlicher Bibliothekar, Tod im Ghetto Litzmannstadt 1942.

Angesichts solcher Schicksale ehemaliger Mitglieder des Physikalischen Vereins wird das aktive Hinausdrängen der noch verbliebenen Juden in seinen Reihen Anfang 1939 hoch problematisch.

Darzustellen wären auch Beispiele von wirklicher Zivilcourage: Patentanwalt Richard Wirth (der nicht Jude war) verweigerte 1939 den von den Mitgliedern geforderten Ariernachweis. 

In diesem Zusammenhang muss auch eine Einschätzung der Ereignisse, die sich im Gebäude des Physikalischen Vereins angesichts der Novemberpogrome ergaben, getroffen werden, als Marianus Czerny, der Direktor des Physikalischen Instituts, die Tafeln mit den jüdischen Mitgliedern mit einer Tapete überziehen ließ. Geschah dies aus Angst? War es vorauseilender Gehorsam? Oder war es, wie es nach 1945 hieß, eine Tat „aktiven Widerstands“?

Beziehungen des Physikalischen Vereins zu den NS-Organen

Zu untersuchen ist auch die Stellung des Physikalischen Vereins im Institutionengefüge des NS-Staates und der NS-Kultur. Wie stark war der Grad der Involviertheit der Vorstandsmitglieder, etwa hinsichtlich Parteimitgliedschaft? Erste Überprüfungen anhand der Kartei der NSDAP ergab vergleichsweise wenige Parteimitgliedschaften (keine Funde in der Kartei bei führenden Köpfen wie Franz Linke, Waldemar Braun, Fritz Roessler). Hingegen berief man mit dem Chemiker bei der Hoechst AG und ehrenamtlichen Stadtrat Dr. Georg Kränzlein 1934 einen ausgewiesenen Parteimann und Antisemiten aus dem Umfeld des Gauleiters in den Vorstand. In den weiteren Recherchen soll der Versuch unternommen werden, zu klären, wer durch Tun oder durch Unterlassen das harte antisemitische Vorgehen im Verein 1939 zu verantworten hatte. 

Von Interesse ist auch das Verhältnis zu NS-Oberbürgermeister Krebs. Schon im Juli 1933 hieß es in der Stadtverwaltung, der Physikalische Verein sei „gleichgeschaltet“, wobei noch zu klären ist, was damit eigentlich gemeint war. OB Krebs hatte großen kulturpolitischen Ehrgeiz und war immer offen für Projektideen. Auch war er Vorsitzender des Kuratoriums der Universität, wo die Vertreter des Physikalischen Vereins mit ihm konfrontiert waren. Ein Machtfaktor dort war auch der NS-Universitätskurator August Wisser, der eine härtere Gangart einschlug und mit dem sich auch der Physikalische Verein ständig ins Benehmen zu setzen hatte.

Ein Thema wird auch das von der Gauleitung verfolgte Projekt eines „Hauses der Technik“ sein. Dieser Institution wurde die Elektrotechnische Lehranstalt des Physikalischen Vereins unterstellt. 

Rüstungsforschung

Da Physik und Chemie immer auch stark anwendungsbezogen sind, ist es nicht überraschend, dass auch die Frankfurter naturwissenschaftlichen Institute sich in der NS-Zeit stark in der Rüstungsforschung engagierten. Jason Lemberg hat dies in seiner 2024 erschienen Dissertation herausgearbeitet und die Vorgänge detailliert dargestellt. Da diese Fachforschungen nun aber unter der Obhut der Universität betrieben wurden, scheint der Physikalische Verein als Institution dabei eher eine Nebenrolle gespielt zu haben. Allerdings war der Vorstand von Vertretern der Großindustrie dominiert, die mit ihren Unternehmen häufig selbst in die Rüstungsproduktion involviert waren, und so scheint der Verein die Funktion einer Brücke zwischen Industrie und universitärer Forschung gebildet zu haben. Diesen Bezügen ist in weiteren Recherche nachzugehen. 

Vortragsprogramm des Physikalischen Vereins

Von verschiedener Seite wurde versucht, das Vortragsprogramm des Physikalischen Vereins – wie das der Frankfurter Vereine und Gesellschaften insgesamt – stärker unter NS-Einfluss zu bekommen. Vom NS-Funktionär Friedrich Freiherr von Holzhausen ging im Auftrag des Oberbürgermeisters eine solche Initiative aus, später auch von den Vertretern des Hauses der Technik. Offenbar wurde der Verein davon aber wenig tangiert. Interessanter wird es hingegen sein, danach zu fragen, inwiefern der Vorstand bzw. die damit betrauten Dozenten in der Organisation des Vortragsprogramms der Propagierung spezifischer NS-Inhalte sowie der Einladung ausgewiesener NS-Funktionäre selbst Vorschub geleistet haben. 

Ereignisse

1943 wurde auf Initiative des Oberbürgermeisters das Institut für Geschichte der Naturwissenschaften gegründet, das dem Physikalischen Verein angeschlossen wurde. Als Leiter wurde Willy Hartner eingesetzt, der (so das Ergebnis bisheriger Recherchen) kein Anhänger des NS war. Das Institut hatte auch nach dem Krieg Bestand, wurde dann aber von der Universität übernommen.

Während des Bombenkriegs erlitten die Gebäude des Physikalischen Vereins in der Robert-Mayer-Straße starke Zerstörungen. Bei den schweren Angriffen im März 1944 kam einer der Protagonisten, Franz Linke, durch einen Herzschlag zu Tode. 

Die Hauptaufgabe des Vereins nach dem Krieg war der Wiederaufbau der Immobilien. 

Entnazifizierungsprozeduren

Ein wichtiges Kapitel ist der Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu widmen. Etliche Akteure sahen sich nach 1945 mit zwischenzeitlicher Entlassung und einem Spruchkammerverfahren konfrontiert. Auf die spätere Weiterführung der Karriere hatte dies in der Regel jedoch keine Auswirkungen. 

In diesem abschließenden Kapitel wird es auch um eine Einschätzung der Stellung und Positionierung des Physikalischen Vereins im Nationalsozialismus als Ganzes gehen. Dabei ist auch der Frage nachzugehen, ob und wie der Verein im Lauf der 80 Jahre, die seither vergangen sind, die NS-Zeit bei historischen Rückblicken rezipiert und inwiefern er sich vor der Auftragserteilung für das jetzt angegangene Forschungsprojekt damit auseinandergesetzt hat.